Kless
Der Letzte seiner Art
Im Lamer Winkel ist es jahrhundertelange Tradition, fast ungeschriebenes Gesetz, Hof und Grund an einen Nachkommen weiterzugeben. Auch Hermann Geigers Familie hielt sich daran. So wurde er zum Besitzer des Guts Kless, einem Hof mit Energiepark, Sägewerk und Wald in der Gemeinde Arrach im Lamer Winkel. Geiger selbst hat keine Nachkommen. Die Lösung: Er gründet eine Stiftung.
1530: Dem Gut Kless wird das Hauswappen verliehen. Das ist urkundlich erwähnt – was vorher war, weiß man nicht so genau. Aber so ungefähr: Die Geschwister Johann und Peter Geiger verließen ihren Heimatort in der Rodinger Gegend und zogen etwa 50 Kilometer weiter nach Arrach auf das Gut Kless, das aus zwei Bauernhöfen bestand, die ein zusammenhängendes Anwesen bildeten.
Das Gut Kless war nicht etwa ein Achtel-, Viertel- oder halber Hof; nein, das Gut Kless war ein ganzer Hof. Damals wurden alle Bauernhöfe nach ihrer Größe und Wertigkeit eingeteilt, um die Abgaben und Arbeitsdienste zu bestimmen, die der Lehensnehmer, der Hofbesitzer, seiner Grundherrschaft, der adligen Obrigkeit, zu leisten hatte. Die Höfe der Brüder Geiger waren damals der Burg Lichteneck in Rimbach unterstellt, einer Burg in etwa zehn Kilometer Entfernung, und hatten genügend Grund und Vieh, um als ganzer Hof zu gelten.
Die beiden Brüder, Klesserer genannt, hatten das Wasserrecht – ein altes Recht auf die eigene Bewirtschaftung von Wasser, das ihnen und ihren nachfolgenden Generationen nicht genommen werden kann. Damit lebten sie nicht nur vom Bauernhof mit Hühnern, Kühen, Ochsen, Pferden, Wiesen und Wald, sondern betrieben mithilfe eines Wasserkraftwerks eine Mühle und ein Sägewerk. Ihre Lage mit direkter Anbindung an schon damals wichtige Straßen wie die Eckstraße schaffte weitere Wirtschaftszweige und Handelswege: Im 17. Jahrhundert gehörte obendrein ein Fuhrunternehmen dazu. Mit Pferdekutschen reisten sie bis nach Istanbul, um Salz und Tücher auszuliefern und Gewürze mitzunehmen, die sie im Bayerischen Wald verkauften. Im 18. Jahrhundert heirateten die beiden Höfe zusammen, das Gut Kless war nun ein zusammengehörender Betrieb.
Seit der Wappenverleihung 1530 hinterließen rund 20 Generationen ihre Spuren auf dem Hof. Besonders die der letzten 120 Jahre sind für Hermann Geiger, den heutigen Besitzer des Guts, noch immer spürbar.
Hermann lernte seinen Urgroßvater nie kennen. Trotzdem kamen ihm einige Erzählungen über seinen Vorfahren zu Ohren: „Mein Urgroßvater fiel als Gaudibursch auf, der nur Flausen im Kopf hatte. Nachts versteckte er sich oft auf Bäumen und hinter Büschen, um die Leute auf ihrem Nachhauseweg zu erschrecken – nur zur eigenen Belustigung. Einmal, das musste um 1900 gewesen sein, hatte er sich vorgenommen, das ganze Bierzelt am Gäubodenvolksfest leerzuräumen. Also fuhr er mit seiner Viergespann-Kutsche nach Straubing und donnerte mit voller Kraft mitten in den Geschirrstand. Da krachte es und schepperte. Alle Leute stürmten aus dem Zelt, um sich das Spektakel anzusehen. Sogar die Polizei kam. Und mein Urgroßvater hatte sein Ziel erreicht. Anfangs wollte die Versicherung nicht für das zerbrochene Geschirr aufkommen. Schließlich sei der Schaden von 9.000 Mark [– das wären laut Umrechnungstabelle der Deutschen Bundesbank heute ungefähr 72.000 Euro –] zurückzuführen auf groben Unfug. Beim Gerichtstermin jedoch, den die Juristen auf dem Gut Kless austrugen, konnte mein Urgroßvater die Richter durch eine List überzeugen: Er spannte ein unerfahrenes Pferd in die Kutsche, das noch keinerlei Erfahrung hatte. Es war unruhig und brachte auch die anderen drei Rösser aus der Routine. Der Kutscher konnte sie nicht mehr kontrollieren, alle vier gingen ihm durch. Da waren sich die Richter sicher, dass der Vorfall mit dem Geschirr sicherlich ein Unfall gewesen sein musste – die Pferde seien schließlich unkontrollierbar. Also blieb der Versicherung nichts anderes übrig als die 9.000 Mark zu bezahlen. Der Uropa war schon ein Gankerl.“
Ganz anders verhielte sich die darauffolgende Generation des Guts Kless. 1911, zu einer Zeit, in der die flächendeckende Stromversorgung im Deutschen Kaiserreich in vollem Gange war, gründete Geigers Großvater ein Elektrizitätswerk, mit dem er Arrach, Haibühl und Frahels mit Strom versorgte. Anfangs waren allein die Wasserkraftwerke für die Stromerzeugung verantwortlich, später nutzte er zusätzlich Dieselaggregate und kaufte Strom hinzu. 1913 baute er eine Spielwarenfabrik, in der er aus einem Teil des eigens geschnittenen Holzes Mosaikbausteine herstellte, die nach Gablonz ins Erzgebirge geliefert wurden. Die Firma fand in den 1940er Jahren ihr Ende, weil die Männer und damit auch die Arbeiter der Fabrik in die Wehrmacht eingezogen wurden. „Während des Zweiten Weltkriegs hätte sich das Spielzeug wohl ohnehin nicht gut verkaufen lassen“, mutmaßt Hermann. Die Leute waren in Not, hatten andere Sorgen. Also mahlte mein Großvater Mehl für das Dorf, man brauchte ja Brot.“
Wieder anders entwickelte sich das Gut Kless unter der nächsten Generation mit Hermanns Vater. 1953, nach dem Tod dessen Eltern, Hermanns Großeltern, übernahm er eine Hälfte des Hofes, die andere ging an dessen Schwester, Hermanns Tante. „Mein Vater war, anders als mein Großvater, nicht unbedingt der Innovativste“, erinnert sich Hermann. „Er war ein Waldfachmann, liebte den Wald. Aber was ihn nicht interessierte, das ließ er links liegen: das Sägewerk, das E-Werk. Das ist in seiner Zeit ein bisschen runtergekommen. Ist zwar weitergelaufen, aber nicht so, wie es hätte sein sollen.“
1972 erbte Hermann selbst die Hälfte seines Vaters, 1996 die zweite Hälfte seiner Tante. „Das war schon so vorgesehen, ich war ja immer dabei. Nach der Schule hatte ich im Sägewerk gearbeitet und das E-Werk verwaltet. Trotzdem hatte ich die Übergabe so nicht erwartet. Mein Vater war 61, als er starb. Von Knall auf Fall hatte ich das ganze Zeug am Hals“, erzählt er. Zu dieser Zeit sei er noch jung und dumm gewesen, grün hinter den Ohren, ein Playboy, der Wert auf schicke Sportwagen legte, auf einen Opel GT oder einen Porsche. Er sei schnell hineingewachsen und mit der Verantwortung klargekommen. Was bliebe ihm auch Anderes übrig? „Da macht man sich nicht so viele Gedanken. Jeder Tag bringt Aufgaben. Da tritt man keinen Schritt zurück, um darüber nachzudenken. Das ist einfach Alltag.“ Und so wurde Hermann zum Realitätenbesitzer – eine Berufsbezeichnung, die sich sein Großvater selbst gab. Welche auch sonst? Säger, Elektriker, Kaufmann, Forstwirt? Realität sei nun einmal, dass er all das besitze.
Hermann hörte gleich zu Beginn seiner Karriere als Klesserer mit der Landwirtschaft auf, da hätte er nur noch draufzahlen müssen. Es sei nicht einfach gewesen, die Tiere wegzugeben. Gerade zu den Pferden hätte er eine enge Beziehung aufgebaut. Alles andere, Wald, Säge- und Wasserwerk sollten weiter zum Gut Kless gehören. Im Wald gehe er spazieren und schaue sich an, wie es den Bäumen gehe. Doch die Pflege, das Fällen, das Messen, die Organisation des Holzverkaufs, das übernehmen andere für ihn, Holzhauer aus der Region. Um die Jahrtausendwende baute er Photovoltaikanlagen, die vier Mal so viel Strom liefern wie sein Wasserwerk. Das Elektrizitätswerk lagerte er aus, indem er es an Fremdfirmen übergab, weil es zu klein war, um ganzjährig Leute zu beschäftigen. Insgesamt steigt der Eigenstromanteil, immer weniger Strom muss von der Strombörse in Leipzig zugekauft werden.
Hermann hat keine Kinder. Auch sonst gebe es niemanden, der in Frage kommt oder in Frage kommen möchte. Doch mit Hof, Wald, Wasser- und Sägewerk soll es weiter gehen, gerade wegen der jahrhundertelangen Tradition des Guts. Also gründete Geiger 2005 die gemeinnützige Hermann Geiger Stiftung. Eine Stiftung hat keinen Besitzer, sie gehört sich selbst. Verantwortlich sind die Stiftungsräte, darunter Hermann Geiger als Stiftungsgeber. Die Stiftung ist Besitzer der Gutsgebäude, des Stromnetzes mit Kabeln und Trafostationen und der E-Werk Geiger GmbH- einzigst die Dienstleistungen sind an Dritte vergeben. Sie kann bestimmen, was mit dem Geld, das die GmbH verdient, gemacht wird. In der Satzung der Stiftung ist festgelegt, für welche Zwecke die Ausschüttungen eingesetzt werden dürfen: Für Bildung, für Kinder, Jugendliche und Alte, für Kunst, Kultur, Denkmalschutz und Heimat, für Natur-, Umwelt- und Landschaftsschutz und für die Förderung von regenerativen, umweltfreundlichen Energien. Bisher unterstützte die Stiftung Institutionen wie Kindergärten, Schule oder Jugendfeuerwehr.
Heute ist Hermann 74 und kennt sein Ziel. Sein Ziel, mit dem er die Stiftung gründete: „Ich möchte, dass die Bevölkerung sagt: Das ist unser E-Werk, das ist unsere Stromversorgung.“ Ob er ein guter Unternehmer war? Ob er ein guter Stiftungsgeber ist? Das wagt er nicht selbst einzuschätzen. Jedenfalls steht fest: Das Gut Kless hat Zukunft.