Das Glück der Einöde

Waldecker

Klara und Otto Frisch leben auf dem Waldeck, einer Einöde im Lamer Winkel. Bei einem Besuch dürfen wir das Ehepaar und ihren Waldbauernhof kennenlernen – deren Geschichte, deren Leidenschaften, deren Sicht aufs Leben.

21. Januar 2023: Es schneit. Der erste Schnee dieses Jahr. So viel, dass wir gehen müssen, gehen dürfen. Vier Kilometer und 40 Gehminuten von Lam entfernt. Weit und breit ist niemand unterwegs. Alles, was wir sehen können, sind Wälder, Wiesen: Silhouettenhaft in unterschiedlichen Weißtönen. Es herrscht Stille. Jene Stille, die man nur im Winter spürt, die man nur spürt, wenn man allein ist, allein in der Natur.

Auf der weiten Lichtung erblicken wir erst das große, alte Bauernhaus, in dem Familie Frisch-Lemberger, die junge Generation der Waldecker, lebt und eine Gastwirtschaft betreibt. Etwas abgelegen auf einer Anhöhe hinter dem Stadl schließlich das kleine Austragshaus, in dem Otto und Klara Frisch, die ältere Generation, wohnen. Auf dem Weg zu dem Haus treffen wir Otto, mit dem wir verabredet sind und der sich gerade mit seinem Traktor auf den Weg zu den Pferden macht. Wir folgen ihm und schauen zu, wie er flink und ohne jegliche Mühen den Bulldog in die Zaunmündung fährt, Heu auf- und ablädt und zurück Richtung Haus fährt.

Wir gehen schon mal ins Haus, bis Otto den Traktor wieder in den Stall gestellt hat. Klara begrüßt uns, fragt uns, wie der Weg war, ob wir Tee möchten, und bedeutet uns auf die Eckbank, wo wir es uns doch gemütlich machen sollen. Sie lächelt, ihre Augen strahlen und wir sind uns nicht sicher, ob die Wärme von ihrer Mütterlichkeit oder vom Holzofen ausgeht. Otto kommt dazu, setzt sich zu uns. Wir mit roten Backen und vereisten Haaren, Otto mit einem verschmitzten Lächeln. Klara setzt heißes Wasser auf den Holzofen. Es knistert. Bei ein paar Haferln Jagertee erlauben sie uns kleine Einblicke in ihre Welt von Jagd und Wald, ihrem Hof, vom Wirtshaus und von ihrer Sicht aufs Leben.

Klara: Otto wurde zum Jäger erzogen.

Otto: Jäger zu sein – das muss man im Blut haben. Ich war fünf oder sechs, als mich mein Papa das erste Mal mit zur Jagd nahm. Ich hatte nur ein Luftgewehr. Mehr brauchte ich nicht. Die meiste Zeit verbrachten wir und verbringe ich noch heute, daran hat sich nichts geändert, nachts auf dem Hochsitz. Ich beobachte den Wald, sehe den Tieren beim Leben zu. Schießen ist da erstmal Nebensache. Die Hege hingegen ist meine wichtigste Aufgabe, das heißt die Erhaltung des Wildbestandes und die Pflege seiner Lebensgrundlagen. Junge Rehe fressen die Knospen junger Bäume. Wenn das zu oft passiert, kommen zu wenig Bäume nach und es steht schlecht um die Zukunft des Waldes. Also muss ich ein paar von ihnen erlegen.

Aber heute gibt es nur noch wenige Rehe, bei uns zumindest. In unserem Gebiet leben so viele Luchse und an oberster Stelle ihres Speiseplans steht nun mal: das Reh. Alle paar Wochen finde ich Überreste. Der Hund riecht sie. Die paar Rehe, die die Luchse da noch übrig lassen, die kann ich an einer Hand abzählen. Die erschieße ich nicht auch noch.

Klara: Früher war das anders. Es war notwendig, öfter mal zu schießen. Die Zahl an Rehen war zu groß.

Otto: Waldarbeit und Jagd gehören zusammen. Eines davon geht nicht ohne das Andere. Beide Aufgaben lassen sich auch gut verbinden: Im Winter gehe ich dreimal die Woche zum Füttern. Wenn ich schon auf dem Weg bin, schaue ich mir die Bäume und Wälder genauer an: Steht da ein Baum, der raus gehört? Weil er krank ist, überaltert oder gerade richtig, um ihn weiterzuverarbeiten, ein Haus draus zu bauen? Dann weiß ich schon, was ich am nächsten Tag zu tun habe.

Klara: Otto sagt immer: „Mei, ist’s im Wald schön!“

Otto: Das ist das Schöne: Sich auf den Hochsitz zu setzen und zu warten, bis Tiere kommen. Und dann einfach sehen und hören, einfach beobachten. Das wird nie langweilig.

Klara tritt hinter der Küchenzeile hervor und stellt ein paar Scheiben Christstollen auf den Tisch.

Otto: (lacht) Die müssen weg. Einer, der früher oft ins Wirtshaus kam, sagte jedes Mal: „Bringt mir das, was weg gehört!“

Klara: Das muss in den 90ern gewesen sein. 1988 eröffneten wir das Wirtshaus. Als zweites Standbein. Vorher, also nach unserer kleinen Stubenhochzeit ’76, Otto war 21, ich 20, genoss ich unser glückliches Familienleben. Ich liebte es, Mutter und Hausfrau zu sein. Otto ging in den Wald und fällte Bäume.

1966 starb Ottos Vater im Alter von 40 Jahren, ganz plötzlich. Otto selbst war elf und der einzige Mann im Haus, seine beiden älteren Brüder waren im Internat. Das Waldeck wurde zur Erbengemeinschaft. Als er 32 Jahre alt war, wurde der Wald schließlich aufgeteilt, er übernahm den Hof mit dem übrigen Wald. Zu dieser Zeit sei das Holz nur ganz schwer zu verkaufen, der Holzpreis im Keller gewesen. Mit ihren drei Mädchen wohnten sie im Austragshaus.

Klara: Wir lebten von der Hand in den Mund. Für das älteste Kind kauften wir Kleidung, die durften die drei jüngeren Mädels später auch tragen. Wir hatten eine kleine Landwirtschaft: zehn Kühe, zwei Schweine, ein Pferd. Davon konnte man schon leben. Zum Abendessen genügte ein Butterbrot. Im Winter war Otto ab vier Uhr morgens als Schneepflugfahrer unterwegs.

Otto: Und daheim, am Hof und im Wald, war ja auch genug zu tun.

1420 wurde das Waldeck erstmals urkundlich erwähnt. Seit dem 17. Jahrhundert lebt die Familie Frisch auf diesem Hof und kümmert sich nun in der achten Generation um die Wälder rund um den Einödhof. Sie bewirtschaften seit Jahrhunderten die gleichen Waldgrundstücke, so wie fast alle Forstwirte hier.

Die Geschichte der Waldbauern im Lamer Winkel beginnt mit der Besiedlung des Gebietes. Dem Kloster Rott am Inn gehörten die bewaldeten Flächen, die es im 13. Jahrhundert an arbeitswillige Menschen zur Nutzung vergab. Ähnlich wie die Künischen Freibauern, die angesiedelten Bauern auf der tschechischen Seite, mussten sie die Grenzen verteidigen und den Urwald bewohnbar machen. Als Gegenleistung durften sie umfangreiche Waldstücke bewirtschaften und konnten diese Mitte des 19. Jahrhunderts für einen geringen Preis kaufen. Um sicher zu stellen, dass sie vom Wald leben konnten, teilten sie die Flächen nur selten. Fast immer war es eine einzelne Person, die den Hof und den Wald übernahm. Heute besteht die Region zu 90 % aus Privatwald, jeder Waldeigentümer besitzt im Durchschnitt 20 Hektar Wald. Beides ist einzigartig im Vergleich zum Rest von Bayern und Deutschland, in dem die Durchschnittsgröße eines Waldbesitzers bei ca. 2 Hektar und privater Waldbesitz bei 48 % liegt.

Klara: Ich war öfter im Dorf unten, um Mama im Sägewerksbüro auszuhelfen. Manchmal nahm mich der Bierfahrer mit, an anderen Tagen der Postbote; wir hatten ja kein Auto. Meine damaligen Freundinnen verstanden nicht, wie ich mich für dieses Leben entscheiden und hier einheiraten konnte. Sie machten sich Sorgen, dachten, ich müsste doch unglücklich sein. Sie fragten oft: „Spinnst du?! Wie kannst du nur hier leben? Da muss man ja auf dem Wildschwein hochreiten!“

Das Waldeck liegt vier Kilometer südlich vom Lamer Ortskern auf einer Höhe von ca. 800 Metern. Ihre Gebäude, das Austragshaus, das Bauernhaus, die Stadl für Gerätschaften wie Traktoren, sind die einzigen dort. Die nächsten Nachbarn wohnen einen Kilometer Luftlinie entfernt, dazwischen liegen die Wälder.

Otto: Dir hat‘s an nichts gefehlt.

Klara: Mir hat’s nie an was gefehlt. Das muss man so sagen und auch so sehen. Es war meine bewusste Entscheidung: gegen ein Studium, für das Landleben als Mutter und Hausfrau.

Klara schält Kartoffeln.

Otto: Und für die Arbeit im Wirtshaus.

Nachdem Klara und Otto mit ihren drei Töchtern aus dem Austragshaus ins große Haupthaus zogen, das Bauernhaus aus dem Jahr 1898, eröffneten sie dort 1988 das Wirtshaus. Dazu mussten sie die Raumaufteilung verändern, das Erdgeschoss mit Stube, Küche und Kuhstall – typisch für alten die Bauernhäuser im Bayerischen Wald – bauten sie um: Aus dem Kuhstall wurde die Gaststube, in der etwa 65 Gäste zum Essen, Trinken und Feiern Platz haben. An den Wänden des Gewölbes, das sich ganz ohne Säulen über den ganzen Raum spannt, hängen Malereien aus Öl und Acryl, von Klara angefertigt. Nach einem stressigen Tag oder wann immer sie die Muse dazu hat, schafft Klara neue Kunstwerke oder spielt auf ihrem Cello.

Klara: Mir gefiel die Arbeit am Gast, ich nahm mir gerne Zeit. Das war vielleicht nicht sonderlich ökonomisch. Es war mir egal, wie viel Zeit ich für die Knödel brauchte. Oder wie lange ich mit den Gästen ratschte. Aber auch die Leute hatten damals noch mehr Zeit. Wenn ich die Kinder von der Schule abholte, mussten die Gäste eben solange warten, bis sie bezahlen konnten. Wir hatten auch keine Speisekarte; was da ist, ist da. Das läuft jetzt, im Wirtshaus unserer Tochter Anna, anders ab. Da kann ich nicht mehr mithalten.

Das Rezept in der Küche lautet: Saisonal, regional und bodenständig. Schwein und Rind stammt aus der Region, Fisch aus dem eigenen Weiher und Wild aus der eigenen Jagd. Serviert wird alles in altem Geschirr: Große Schüsseln und Reinen werden in die Mitte des Tisches gestellt. Und als Hauptgericht gibt es das, was auf der Tafel steht. So fing Klara damals an und so macht Tochter Anna mit ihrem Mann Josef Lemberger weiter.

Otto: Die machen das professionell. Wir waren ja Laien.

Anna und Josef sind beide gelernte Gastronomen. Josef gelernter Koch, Anna gelernte Hotelfachfrau. Beide arbeiteten in der Schweiz, kehrten nach Lam zurück und entschieden sich, das Gasthaus zu übernehmen. Seit 2004 führen sie die Gastronomie weiter, entwickeln sie, machen sie zu ihrem eigenen Kunstwerk. Und mit Erfolg. Das Waldeck war schon mehrmals Thema in Fernsehberichten, etwa bei Wir in Bayern oder Unkraut – weil sie Heimat und Tradition mit Moderne verbinden. Auch der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler war 2005 während seines Wanderurlaubs im Bayerischen Wald zu Gast.

Klara: Wenn es nur ums Geld ginge, könnten wir einfach ein Hotel hinstellen. Dieser Standort – ruhige Lage, ringsum Wälder – hätte auf jeden Fall das Potenzial dazu. Schon oft kam jemand zu uns und stellte uns seine Geschäftsidee vor: Sie würden eine Erlebnisgastronomie bauen, als Geschäftsführer arbeiten. Und wir brauchten nichts weiter zu tun als unseren Raum zur Verfügung zu stellen. Und das große Geld zu verdienen.

Otto: Ob einen das glücklich macht…

Wir ratschen weiter, lassen uns berieseln von ihren Erzählungen und philosophieren so vor uns hin. Über die Frage, wie wichtig Geld ist, was überhaupt wichtig ist; über Romantik; darüber, wie Klara und Otto sich kennenlernten; darüber, wie sehr Klara liebt, nicht nur Otto, ihre Kinder, Enkel und Schwestern, sondern ihr ganzes Leben, gezeichnet von der Entlegenheit und Ruhe der Einöde; darüber, was für die beiden ein gutes Leben ausmacht.

Hier oben hat es fast etwas Lächerliches, nach immer mehr zu streben. Nach mehr Geld, mehr Besitz, mehr Macht, einfach mehr. Viel größer scheint das Bedürfnis, das zu bewahren, das wertzuschätzen, was ist. Einfach sein.

Drei Stunden sind vergangen. Noch immer gäbe es genug zu reden, doch draußen dämmert’s schon. Wir schlüpfen in Stiefel und Mantel und verabschieden uns von der warmen Gastfreundschaft hinaus ins kalte Schneegestöber.